Die Zeitreisenden

Die Zukunft ist nicht nur die bevorstehende Zeit. Es gibt die ferne, hoffnungsfrohe Zukunft, wo die Erfüllung unserer großen Träume auf uns wartet. Sie ist unskaliert. Davor steht die definierte Zukunft, sie ist durchgetaktet mit Terminen, Verabredungen und Jahres-Highlights. Seit Corona ist die Zukunft multidimensional. Es gibt nun auch das nebulöse Morgen. Das ist undurchschaubar, nimmt uns den Wind aus den Segeln. Das lenkt zwangsläufig den Blick auf die Gegenwart, regt aber auch dazu an, die fernen Visionen neu zu denken. Sieben Zeitgenossen*innen äußern sich dazu.

Alles was ich jetzt tue, ist für das Später. Ich gehe meine To-Do-Liste offensiv an, damit es sich später leichter anfühlt. Ich erledige Zusätzliches, arbeite vor, damit es am nächsten Tag nicht so viel ist. Da kommt aber noch mehr dazu. Später, am Abend, bin ich dann so erledigt, dass keine Muse mehr für Genuss bleibt. 

Später wird alles leichter. Ich vertröste die Kinder auf später. Den Sport auf später. Zeit zum Lesen gönne ich mir später. Spazierengehen später. Kleine Wünsche erfüllen, später. Große Wünsche noch später. Wenn die Kinder ausgezogen sind, das Haus abbezahlt ist, ich mehr Zeit habe. Wenn die Zeit kommt … Die Träume liegen in der Zukunft. Ich muss nur in Vorleistung gehen und Geduld haben, erstmal ausharren statt aufzublühen, glaube ich.

Doch dann kam Corona.

Seit einem Jahr gibt es kein Später mehr, keine mittelfristige Zukunft und Möglichkeit mehr, Highlights zu planen, in Vorleistung zu gehen. Keine Planungen mehr für Urlaube, Verabredungen, Trips, Seminare und weitere Träumchen möglich. Die nahe Zukunft ist ungewiss. Was bleibt ist das Heute. Corona nötigt mich, in der Gegenwart zu verweilen.

Ich versuche mich trotz Erschöpfung in Dankbarkeit zu üben. Der Dreijährige zerrt an meiner Hand. „Ich bin hier. Ich freue mich über dich. Sei auch du bei mir. Mit dem Kopf. Mit deinem Herz“, will er mir sagen. Und ich lerne von ihm, immer wieder. Die wichtigste Zeitkategorie ist hier. In diesem Augenblick. Gerade jetzt. 

Das ist ein feiner Nebeneffekt. Und regt an, das eigene Leben neu zu betrachten, seine Perspektive und Wünsche nachzujustieren und Raum zu schaffen für neue Visionen. 

So wie diese sieben Zeitgenossen*innen aus der Region. Sie reisen in ihre Zukunft und beschreiben, was sie dort tun und sich wünschen.

Bernd Vogel, 47, Flein, Optiker, www.optikhaus.hn:
»Es ist der 22.03.2034, ich kaufe mir einen der letzten 6-Zylinder-Cabrios und fahre mit tollem Sound durch die Lande. Die Gesellschaft wird immer uniformer und emotionsloser. Wir sind so auf Gleichbehandlung fixiert, dass wir nicht bemerken gerade dadurch die Individualität zu verlieren. Ich bin ein stiller Beobachter, bleibe mir treu und wundere mich über die Anderen. Ich wünsche mir ein sorgenfreies, abwechslungsreiches und gesundes Leben.«

Matija Pehar, 44, Talheim, Unternehmerin, www.style-boss.de:
»Ich feiere gerade meinen 70. Geburtstag am 15.07.2046, in einem Haus am See – a là Peter Fox. Es gibt keine Länder mehr, sondern nur Universen. Deutschland wird zum Määh-Universum. Ein Mekka für alle im Sternzeichen »Schaf« Geborenen mit Aszendent »Das-Denken-überlassen-wir-anderen«. Ich schaue ihnen von einem anderen Universum zu, in dem Menschen mit humanistischer Einstellung in Geselligkeit und Frieden leben.
Für eine bessere Zukunft gilt: Weg mit den wirtschaftlichen Interessen! Sie zerstören alles.«

Zahide Hartig, 17 Jahre, Bad Wimpfen, Abiturientin:
»Wenn ich an mein zukünftiges Ich denke, bin ich im Jahr 2031. In der Mode wiederholen sich viele Trends aus dem 20. Jahrhundert. Gesellschaftlich sind wir einige Schritte weiter, z.B. in der Emanzipation der Frau. Es gibt zudem weniger Diskriminierung und Rassismus. Social Media und Digitalisierung gehören zum Schulalltag. Die Ansprüche der Schulen und für Berufsqualifikationen sind weiter gestiegen. Die Umweltsituation hat sich leider kaum verbessert. Aber ich bleibe weiter positiv und versuche selbst etwas Gutes beizutragen.
In zehn Jahren bin ich vermutlich Lehrerin an einer Grundschule. Zum Ausgleich übe ich neue, interessante Hobbys aus und erkunde die Welt.
Für meine Zukunft wünsche ich mir finanzielle und familiäre Stabilität sowie ein glückliches und zufriedenes Leben.«

Fehmi Isik, 27 Jahre, Kirchardt, Junior Einkäufer: 
»Wir haben den 19. April 2044, 23 Jahre in der Zukunft. Ich erlebe hier eine neue Zeit der Aufklärung, es wurden neue Gotthold Ephraim Lessings geboren, die sich auflehnen. Die Menschen hatten in Zeiten der Globalisierung das Denken zunehmend den Medien überlassen. Doch wie einst der Freiheitswille gegen die Katholische Kirche im Mittelalter siegte, haben wir uns 2044 auch vom Diktat der Medien befreit. 
Die Diversität brachte Farbe in die heutige Gesellschaft. Die Menschen verschiedenster Ethnien und Religion leben in dauerhaftem Frieden miteinander. Als Bestandteil dieser Gesellschaft gestalte ich sie aktiv mit. Ich bin Politiker und setze mich für die Rechte der Minderheiten und das Allgemeinwohl ein. Wir haben endlich die 17 SDG’s (Nachhaltige Entwicklungsziele der Vereinten Nationen) global erreicht und retten unseren Planeten. 
Der Kleidungsstil und die Musik der klassischen 1930/40er ist gerade Mode. Es gibt viele Cafés und Livebands an jeder Straßenecke. In meiner Zukunft denken und leben wir Menschen wieder human.«

Nadine Engler, 35 Jahre, Lehrensteinsfeld, Coach & Mentorin, www.diepowerfrau.com:
»Am 19.4.2031, ein Samstag, sitze ich entspannt mit einem Kaffee am Meer und genieße den Frühling.
Die Arbeitswelt hat sich in den letzten zehn Jahren sehr verändert. Es wird intuitiver entschieden und agiert – ohne umfangreiche Strategie, langfristige Planungen und endlose Messbarkeit. Das ureigene Gespür des Menschen steht im Vordergrund, ebenso Wandelbarkeit und Spontanität. Die Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie stellt sich nicht mehr, es ist das selbstverständliche Gerüst, auf dem alles fußt. Die Arbeitswelt ist weiblicher geworden und damit sehr erfolgreich. 
Ich bin weiterhin als Mentorin tätig, aber meine Klient*innen sind einen großen Schritt weiter, vertrauen mehr ihrer Intuition und handeln danach. Generell gehen Frauen in vielerlei Hinsicht ihren eigenen individuellen Weg, viele gründen erfolgreiche Unternehmen. Das begrüße ich sehr, denn die Energie dahinter ist stark nach vorn gerichtet. Genau diese Entwicklung hat rückblickend viele problematische Themen von 2021 gelöst.«

Robert Grau, 32, Heilbronn , Key Account Manager, robertgrau.de:
»Im Jahre 2030 stehe ich mit Ehefrau und Kindern finanziell unabhängig, und mit mir selbst im Reinen, da. Meinen Wohn- und Arbeitsort gestalte ich flexibel. 
Seit COVID-19 vor neun Jahren erkannten viele Unternehmen Nachholbedarf beim Thema Digitalisierung und Social Media. Genau diese habe ich dann erfolgsbringend beraten und unterstützt. Darum verbringe ich die Winter-Monate auf einer Hängematte auf Bali, während weitere Aufträge unkompliziert in meinem Instagram-Postfach eingehen.
Mittlerweile arbeiten die Menschen glücklicherweise miteinander statt gegeneinander, schätzen und unterstützen sich mehr. Das macht eine gesunde Welt aus.«