Moderne Spiritualität
Womöglich schwappt gerade der Zeitgeist aus der Hippiezeit in unsere Dekade. Denn eine eigensinnige Love, Peace and Harmony Denkkultur verbreitet sich zunehmend in der Gesellschaft. Friday for Future, Yoga, Veganismus, Gendering, Kloster-Retreats, Esoterik, Persönlichkeitsentwicklung, »Querdenkender«, undogmatische religiöse Ansichten usw. Immer mehr Menschen sind auf der Suche nach Selbstbestimmung, innerer Ruhe und Sinn im Leben.
Religion und Großfamilie boten einst mentale Stabilität, heute eher eine indi-viduelle Spiritualität – bei der die Grenzen von psychologischen, philosophischen, religiösen und schamanischen Elementen zunehmend verwischen.
»Kein persönlicher Gott mehr, keine Konfession, keine Glaubensgemeinschaft, keine Kirche, keine damit verbundene sittliche Weltordnung – aber das Gefühl einer Allheit und Allverbundenheit, emotionale Übereinstimmung mit dem Weltganzen, das Absolute als Chiffre für die Liebe«, heißt es in Goethes »Faust«. Für das Jahr 1808 war das eine verwegene Ansicht zum Thema religiöser Glaube. Heute ist dieses Denken weit verbreitet und individuell ausgeprägt, wie die sieben Befragten deutlich machen.
Moderne Spiritualität findet immer mehr Zuspruch, weil sie uneingeschränkt und bedingungslos ist. In ihr können viele Religionen, Traditionen, Weisheiten und Lehren verbunden sein. Hier darf ich glauben, wählen und mixen, wie es mir zusagt – und nicht was Familie, Tradition oder Gemeinschaft vorgeben. Früher wurde eher ein Gebet in den Himmel geschickt, nun sind Mantras in aller Munde. Einst war die Bibel buchstäblich lebensweisend. Heute geht es tendenziell mehr um die Botschaften und Werte: Gerechtigkeit, Mitgefühl, Liebe, Menschenrechte. Ich darf Christin sein und esoterisch anmutende Rituale ebenso mögen. Diese neue, humanistische Form der Spiritualität kann viele Menschen vereinen, ohne einander abzuwerten.
Ein komplexer Begriff wie Spiritualität erlaubt viel Interpretationsfreiheit. Es kann die Suche und Hinwendung nach der eigenen Identität, den Werten, der Selbstverwirklichung und nach dem Sinn sein. Es kann bedeuten, sich vom Göttlichen leiten zu lassen, aber auch losgelöst von religiösem Glauben zu sein – etwa durch ein positives Gedankengut zu wirken, seinem Herzen zu folgen, Güte und Toleranz zu zeigen, emphatisch und hilfsbereit zu sein, bewusster mit sich selbst und seiner Umwelt umgehen zu wollen.
Beliebte Methoden dafür sind: Meditation, Yoga, Zeit in der Natur, Kloster-Retreats, Dankbarkeits-Tagebücher, Kristallsteine, Räuchern, Astrologie, Tarot-Karten, schamanisches Trommeln, fleischlose Ernährung, Waldbaden, Musik, Tanz, Fasten usw. Die psycho-spirituelle Szene erfährt gerade einen regelrechten Hype – nicht verwunderlich ob der materiellen und informationsbeladenen Wettbewerbsgesellschaft, in der wir uns zurechtfinden müssen. Die Menschen sehnen sich zunehmend nach innerer Stärke und Ruhe.
Achtsamkeit wird mittlerweile inflationär gebraucht, doch sie schafft genau diese ersehnte Ruhe: in dem ich meine Aufmerksamkeit fokussiere, bei einer Sache bleibe, lerne zu pausieren, das Schleuderprogramm meiner Gedanken beende und mich auf das Gegenwärtige konzentriere. Das kann auch spirituelle Momente hervorrufen. Doch warum ist das erstrebenswert? Weil es Fülle, Zufriedenheit und Zuversicht erzeugt. Weil Spiritualität helfen kann, mit den Herausforderungen des Lebens besser umzugehen, Konflikte und Zweifel gut zu bewältigen und sich sowie seiner Umwelt liebevoller zu begegnen. Und das Leben fühlt sich verdammt wertvoll an.
Was verstehst du unter Spiritualität und was bedeutet sie dir?
Priyanka Dutta, 36, Flein, Inhaberin einer Werbeagentur:
»Für mich ist Spiritualität im Einklang mit mir selbst zu sein und eine Form der Persönlichkeitsentwicklung. In meiner indischen Kultur ist das spirituelle Wachstum eine traditionelle Lebenseinstellung. Spirituelle Momente erlebe ich z.B., wenn ich den Sonnenuntergang und die Ferne betrachte, meinen Tee und die Stille genieße. Aus diesem harmonischen Einklang schöpfe ich meine Kraft. Dann zähle ich zehn Dinge auf, für die ich dankbar bin, wie das Lächeln meines Kindes und dass es meinen Liebsten und mir gut geht – das ist für mich der Schlüssel zum Glück. Gelegentlich meditiere ich auch und höre gerne Podcasts. Das alles hilft mir, die Herausforderungen im Leben gut zu meistern.«
Ronald Taschi, 36, Heilbronn, Paketzusteller:
»Unter Spiritualität verstehe ich, dass ich weiß, dass da immer jemand ist, der mich bedingungslos liebt und mich so annimmt wie ich bin – ohne irgendwelche Vorurteile zu haben. Ich bete jeden Abend, bevor ich schlafen gehe und nehme mir jeden Tag zehn Minuten Zeit, um für mich zu sein. Ich kehre dann in mich, fahre einfach runter und tanke dabei neue Kraft. In einem spirituellen Moment blende ich alles um mich herum aus. Dann fühle ich eine unbeschreibliche Ruhe in mir.«
Lisa Ackermann, 32 Jahre, Beilstein, Zahnmedizinische Prophylaxeassistentin:
»Spiritualität heißt für mich: Zeit für mich, Zeit zum Entspannen, Zeit zum Loslassen. Dafür pflege ich Routinen wie Spazierengehen und dabei die Natur, die Gerüche, Tiere und Geräusche bewusst wahrzunehmen und zu entdecken. Dann fühle ich mich frei, losgelöst vom Alltag, fernab von Stress und der Schnelllebigkeit. Ich vergesse in diesem Moment alles um mich herum und fühle eine absolute innere Ruhe.«
Emilie Baorda, 27, Remseck am Neckar, Personalmanagerin:
»Spiritualität bedeutet für mich, mit mir selbst im Reinen zu sein. Das erlebe ich in Momenten, in denen ich bastle, lese, spazieren gehe, mir Sauna und Dampfbad gönne oder Regengeräuschen lausche. Dann schalte ich vom stressigen Alltag gut ab, entspanne mich und fühle mich sehr ausgeglichen. Ich möchte gern noch mehr Routinen einbauen und vermehrt drauf achten, Dinge achtsamer wahrzunehmen.«
Tiziana Aiello, 29, Heilbronn, Zahnmedizinische Fachangestellte:
»Ich verbinde mit Spiritualität Kraft, die ich körperlich und seelisch erfahre. Es gab Zeiten, da fühlte ich mich eher hilflos im Leben, nie ganz angekommen, doch das ist nicht mehr der Fall. Meine Heilsteine sind meine täglichen Begleiter, die mich beschützen und mir helfen, in meinem Alltag alle Hürden zu meistern. Meditieren hilft mir z.B sehr bei Migräne. Seitdem ich meine spirituelle Seite auslebe, bin ich ein ganz anderer Mensch. Ich sehe viel klarer, fühle mich sicherer, entspannter und habe keine Angst mehr vor Neuem.«
Theresa Kaya, 23, Karlsruhe, Studentin/Wirtschaftsingenieurwesen:
»Mein christlicher Glaube und meine Spiritualität sind eng miteinander verzahnt. Zwar bin ich im Alltag oft abgelenkt von weltlichen Dingen, ich versuche jedoch meinen Glauben an Gott und Jesus Christus immer wieder bewusst in den Alltag zu integrieren, indem ich beispielsweise vor dem Essen oder Schlafen bete. Ich mache mir dabei immer Gedanken, wofür ich dankbar bin und was mich über den Tag begleitet hat. Diese spirituellen Momente helfen mir, stets zurück zu mir zu finden und meine Gedanken und Gefühle prägnanter wahrzunehmen. Es gibt aber auch Tage, an denen ich das komplett ausschalte und nicht praktiziere.«
Leonie Schneider, 29, Flein, Fahrlehrerin:
»Meine Spiritualität drückt sich durch Dankbarkeit aus, für alles was der Tag bringt, durch das Zulassen ehrlicher Gefühle und achtsamen Umgang mit diesen. Dafür schenke ich mir selbst Zeit: Am liebsten gehe ich spazieren, um meinen Kopf frei zu bekommen. Meinen Morgen starte ich gern mit kleinen Yoga Flows. Hörbücher sind mein täglicher Begleiter und entspannen mich enorm. An stressigen Tagen helfen mir Atemübungen. Die Spiritualität kam einfach zu mir, als ich ruhige Momente für mich benötigt und gesucht habe. In schwierigen Situationen hilft sie mir, gelassener zu bleiben und das Gute daraus zu ziehen. Sie befreit und erdet mich.«