Der individuelle Mix schön zu leben

Oma wäre stolz, wenn sie sehen würde, wie fantastisch ihre altmodischen, bestickten Kissen und ihr goldverziertes Porzellan meinen Wohnraum schmücken. Das nennt man Vintage. Dieser ehemalige Kitsch darf auch noch mit modernen Elementen gepaart werden und das passt so gar nicht zusammen – sieht aber fantastisch aus! Das nennt man Mix und Match. Der Mann im Haus versucht erst gar nicht zu verstehen, was da in letzter Zeit in sein Weibsbild gefahren ist. Die sterile, puristische Wohnung ist dahin, geschmückt mit allerlei Erbstücken, Altmodischem, Selbstgemachten, Illustrationen ohne Bilderrahmen. 

Dieser Stil der Kontraste und des Unperfekten irritiert auch Schwiegermutter, wenn sie zu Besuch ist. Meine Blumentöpfe auf der langen Fensterbank schiebt sie synchron zueinander. Meine Kissen drapiert sie unauffällig in tadellose Abstände. Ich lächle nur und lasse sie. Das ist der Zwang ihrer Generation, die äußere Perfektion verschafft ihnen oft innere Ordnung und Sicherheit. Die Generationen danach allerdings wollen sich abgrenzen – also fast alles anders machen. Die Kissen werden nach ihrem Besuch auf einen Haufen in die Sofaecke und die Töpfe wieder in eine Ecke zusammengeführt.

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Heilbronn - 2020

Meine kleine Oase der Gemütlichkeit und des Unperfekten wird wieder hergestellt. Aber meine Trockenblumen rette ich trotzdem davor, von ihr entsorgt zu werden. „Nein, die sind nicht verwelkt!“ Über Geschmack lässt sich manchmal streiten, aber eines scheinen viele Menschen gerade gemeinsam zu haben: die Sehnsucht, mit der Natur verbunden zu sein.

Das spiegelt sich in Mustern, Stoffe und Farben wieder. Florale und tierische Prints, Materialen aus der Natur schmücken Innenräume und Farben wie grün oder Pastelltöne schenken gerade Wohlbehagen.

Alltagsphilosoph Frank Berzbach plädiert in seinem Buch »Die Form der Schönheit«, seinen Blick bewusst zu schärfen, um die Schönheit um sich herum zu erkennen. Das gilt auch für Innenräume. »Wenn wir einen Raum betreten, werden wir umgehend zum Interieur und wir selbst sind umstellt von möblierten Sinn.« Innenräume spiegeln also das Innenleben ihrer Bewohner wider. So ist es auch eine Geste der Wertschätzung, wenn man in private Räume anderer geladen wird. Das durfte ich neulich eindrücklich erleben, als ich eine liebe Bekannte erstmals besuchte. Ihre Wohnung überforderte und faszinierte mich zugleich. Die vielen Bilder, Dekoelemente, Zeitungsausschnitte, Grafiken, Bücherregale, CDs, bunte Kissen, … Es gab keine leere Ecke oder Wand. So viel Unruhe, aber so viel pralles Leben. Ich fühlte mich geehrt, nicht nur durch die persönliche »Kunstausstellung« meiner Freundin geführt zu werden, sondern dass sie mir dadurch tiefe Einblicke in ihr bewegtes Innenleben selbst gewährte.

Innenräume spiegeln das Innenleben ihrer Bewohner wider.

Die zunehmende Sehnsucht nach individuellem Ausdruck und Naturverbundenheit wird mitunter durch den DIY-Hype deutlich. Wir möchten mit den Händen selbst gestalten, am liebsten aus Naturmaterialien und nachhaltig. Es werden Stickrahmen mit Trockenblumen und Eukalyptus verziert, Gefäße aus Beton gegossen, Makramees geknüpft, Kränze gebunden und so fort. Wir schaffen uns einen authentischen, warmen Rückzugsraum als Abgrenzung zum hektischen Außen. Balkone und Terrassen werden wohnlicher und komfortabler, mit gepolsterten Möbel, Kissen, Kerzen und Outdoor-Teppichen. Wir streben nach Ruhe und Harmonie in unseren eigenen vier Wänden. Zuhause ankommen und loslassen.

 

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Heilbronn - 2020

Das geht auch, wenn man in Heilbronn und Umkreis lebt. Das sah ich nicht immer so.
»Heilbronn. Ja, das muss man nicht kennen.« So betrachtete ich meine Wahlheimat die ersten Jahren. Heute verkünde ich: »Heilbronn. Eine Stadt voller Ambivalenzen, Schönheit und Hässlichkeit, dynamisch und lässig, kreativ und unspektakulär, darum einfach zum Wohlfühlen.«

Mit den Jahren darf man den Charme der Stadt lieben lernen, denn wo es soviel Raum zwischen Plus und Minus gibt, gibt es auch viel Raum sich zu entfalten. In Heilbronn zu wohnen bedeutet, nicht Spießer sein zu müssen oder alternativ. Ich bin nicht nur Intellektueller oder Arbeiter, Gutverdiener oder Brotloser. Ich muss nicht entweder stilvoll

oder ghetto sein – das geile an Heilbronn ist, ich darf alles sein und mir nehmen was ich will. Ich brauche nicht entweder oder sein. Ich kombiniere hier meinen eigenen Persönlichkeitsstyle und werde so angenommen. Weil Heilbronn bunt ist. Mal protzig und oberflächlich, dann wieder voll authentisch, ohne viel Drama und Hochglanz. Mal voll bewegend, mit interessanten heterogenen Szenen und Gruppen, manchmal typisch Industrie-Wohlstands-Möchtegern-Touri-Stadt. Doch das beste hier: Neben Heilbronns unerwarteten Naturschönheiten überrascht die Region auch mit dem Potpourri an interessanten Menschen, die hier leben.

»Es gibt eine Schönheit, deren Teil wir werden, wenn wir uns ihr aussetzen. Ob in Bezug auf ein Gemälde, einen schönen Menschen, einen Ort oder eine Landschaft.«, erklärt Philosoph Berzbach. Sind wir bereit, uns der Schönheit unseres Umfeldes auszusetzen? Seitdem ich das tue, hab ich Heilbronn lieb gewonnen. Diese Region animiert zum Mix und Match. Ich genieße es, nicht eine Schublade zu bedienen, sondern ziehe mir das heraus, wonach mir ist. Und genau dann wohne ich in mir und schaffe dadurch auch im Außen einen wunderbaren Raum, meinen Wohlfühlort, in meinen vier Wänden und außerhalb. Damit bin ich auch Teil dieser Stadt und gestalte sie mit meiner Lebenshaltung ein wenig mit. Und seitdem ich kapiert habe, dass ich nicht ein Stil leben muss, sondern frei entscheiden darf, bunt und universell zu denken, wohnen und leben – habe ich auch ein wohlwollenderen Blick auf andere Menschen und ihre individuelle Art zu sein.