Die Macht der Mücke
Eine Drei-Generation-Anekdote: Beim Männer-Stammtisch schimpfen Herbert, Günther, Detlef, Ulrich und Musa energisch über Politik und Gesellschaft. Ihre Frauen lästern derweil bei ihrer Kartenspiel-Runde über die Männer und das Gesundheitssystem. Deren erwachsene Kinder spekulieren währenddessen im Fair Trade Café was schief läuft mit ihrer passiven Protest-Eltern-Generation – und wie sie statt zu schimpfen, lieber zum Handeln bewegt werden könnten. Die fünfjährige Emma erweist sich als kluger Ratgeber.
»Die Erzieher? Ha, die haben doch alle ihren Beruf verfehlt. Und die Lehrer erst! Die sind doch inkompetent und vermitteln keine Werte mehr. Es geht denen doch nur darum, für den Staat zu arbeiten und ihre Altersvorsorge abzusichern«, empört sich Herbert in seiner Stammtisch-Runde im Hau-Ruck. »Die Chefs heutzutage sind auch nicht mehr, was sie mal waren. Null Führungsqualität und abgehoben. Die wälzen ja nur noch alles ab und verdienen sich eine goldene Nase, während wir Arbeiter ausgebeutet werden! Wisst ihr, früher konnte man sich noch wirklich hocharbeiten, weil man was geleistet hat, auf ehrliche, bodenständige Art. Heute werden jungen Burschen Chefposten zugeteilt, nur weil sie irgendwelche Titel auf dem Papier haben, aber von Tuten und Blasen keine Ahnung!“, wettert Günther. »Schuld sind doch die Politiker! Korrupt und Heuchler. Nur Lügen und ein Gerangel um Macht. Wir sind ihre Marionetten!«, konstatiert Ulrich. »Ja! Früher war alles besser!« »So schaut’s aus!« »Prost!« »Prost!«
»Und sterben werden wir entweder am Klimawandel, bei einem nuklearen Angriff oder an einem tödlichen Virus aus dem Labor«, ergänzt Detlef. »Und da stecken die Amis bestimmt dahinter!«, erklärt Musa. »Oder die Russen!« »Ja, Günther!« »Glaubt mir doch: Die Israelis steuern in Wirklichkeit das Weltgeschehen!« »Ja, wer weiß. Hauptsache wir durchschauen diese ganzen Machenschaften!« »Jawohl, uns können sie nichts vormachen! Prost!« »Prost!«
»Ich sag euch das schon seit über 20 Jahren: Unsere Demokratie ist eine Farce. In einer Diktatur wird man wenigstens ganz offiziell diskriminiert. In der Demokratie suchen wir uns aus, von wem wir unterdrückt werden!«. »Ulrich, du sagst es! Prost!« »Prost!« Musa: »Gott steh uns bei!«
Derweil spielen deren Frauen Doppelkopf in Herberts Wohnung. »Ein Jammer, wie die Ärzte einen nur noch abfertigen. Was ich neulich erlebt habe, sage ich euch!«, berichtet Hausherrin Gisela. »Ach, unser Gesundheitssystem geht einfach vor die Hunde, ein perfides Zwei-Klassen-System. Als Kassenpatient bekommst du kaum noch einen Arzttermin und musst mittlerweile die Medikamente aus eigener Tasche zahlen!« »Ja, Ruth, weil die ganze Wirtschaft von Lobbygruppen gesteuert wird, sagt mein Ulrich immer. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer!«, betont Marta und spielt ihre Karte aus. »Oh, in welcher Welt wachsen unsere armen Enkelkinder auf!? Es geht nur noch um Macht und Geld! Wo ist die Gemeinschaft geblieben, die Nächstenliebe?!«, fragt Layla besorgt. Stille.
»Aber, wir haben doch uns! Und wir haben gerade unsere faulen Saufbolde los!« erklärt Hilde heiter. »Ja, so is recht. Auf uns und unsere kurzweilige Freiheit!« »Jawohl!« »Und zum Wohl!« »Und auf die Nächstenliebe! Auf dass ich Günther nicht vor die Tür setze!« »Inschallah!« »Oh und ich Detlef gleich mit!», erklärt Ruth. »Alles muss ich ihm nur nur noch hinterhertragen. Und dann kann ich es ihm nicht mal recht machen. So ein nörgliger alter Pascha, sag ich euch.« »Naja, mein Ulrich ist nicht besser. Den ganzen Tag beschäftigt er sich mit Verschwörungstheorien. Wusstet ihr, dass Trump und Putin eigentlich für den Mossad arbeiten?« »Das ist ja herrlich absurd, Marta. Unsere Männer sind wahre Lichtgestalten.«
»Auf unsere Pantoffelhelden! Prost!« »Auf die Liebe!«
Derweil sitzen deren erwachsene Kinder im Weltcafé und genießen ihren Fair Trade Chai Latte. »Was unsere Eltern wohl gerade besprechen?«, sinniert Samira amüsiert. »Unsere Väter schimpfen vermutlich auf die Politik und unsere Mütter über ihre Krankheiten!« »Ja Kai, oder sie beklagen ihre lästigen Männer!«, ergänzt Ina belustigt. »Eine herrliche Vorstellung. Aber wisst ihr was?! Wer klagt schaut zumindest nicht weg. Wo unsere Mütter und Väter Probleme wahrnehmen, werden Bedürfnisse offenbar nicht gestillt.« »Anna, bei aller Liebe für deine emphatischen Erkenntnisse, aber wohin führt dieses Stammtisch-Geschimpfe? Letztlich nur zu Selbstmitleid, einer Opfer-Haltung und passives, destruktives Handeln.«
»Kai, das mag sein, aber hast du versucht deine Eltern mal in deine Welt mitzunehmen, sie aufzuklären, wie aktiv du bist und wie sie auch einen wertvollen Beitrag leisten können?« »Anna, ich habe ihnen so oft von meinen ehrenamtlichen Projekten und der Agenda 2030 erzählt, in der sich fast 200 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen verpflichteten, die Welt ökologisch nachhaltiger und sozial gerecht zu gestalten. Ich habe sie oft eingeladen zum interkulturellen Café oder diversen Vorträgen. Sie lehnen verächtlich ab.«
»Vielleicht ist das, was du leistest zu weit von ihrer Welt entfernt? Was wenn unsere Eltern stattdessen etwas benötigen, was mehr ihrer Realität entspricht – um sie aus ihrer Lethargie herauszuholen?«, fragt Samira. »Ich habe z.B. neulich meine Mutter mit auf das Schulfest genommen, wo ich als Elternbeirätin sehr eingespannt war. Sie hat sich wie selbstverständlich zum Kuchenverkauf gestellt und tatkräftig angepackt.« »Ja, und meinen Vater samt seinen Werkzeugkoffer habe ich letztes Jahr mit ins Altenheim geschleppt. Ich bat ihn Kleinigkeiten zu reparieren, weil er doch ein Händchen dafür habe«, erklärt Anna und bestellt zwei Zitronenwasser mit Ingwer. »Seither schaut er regelmäßig dort vorbei und unterstützt hier und da.«
»Aha, das ist ein spannender Gedanke: Wir sollten also unsere Protestierenden in ihrer Welt abholen und auf ihre Stärken setzen? Die Frage ist also nicht, wie und wo, sondern was? Was kannst du besonders gut und wem kannst du damit helfen – und deine persönliche Welt dadurch ein klein wenig besser machen?«, resümiert Ina erstaunt.
»Darauf trinken wir!« »Auf das Was!« »Zum Wohl!«
»Apropos, kennt ihr schon die Geschichte von der Macht der kleinen Mücke? Unsere Emma hat sie uns gestern aus dem Kindergarten mitgebracht«, erzählt Anna. »Mama, egal wie gemein die Welt da draußen manchmal ist, falls du glaubst, dass du zu klein bist, um etwas zu bewirken, dann denke an Moskitos. Weißt du, versuch nämlich mal, zu schlafen, wenn eine Mücke im Raum ist.« Staunen. Rumoren. Lachen. Kai: »Wahrlich ich sage euch, wir setzen die Fünfjährige das nächste Mal zu den Alten an ihre Stammtische.«
Falls du glaubst, dass du zu klein bist, um etwas zu bewirken, dann versuche mal zu schlafen, wenn eine Mücke im Raum ist.
Dalai Lama