Vielleicht wird’s vielleichter

Das Leben stellt uns täglich tausendfach vor die Wahl, kleine und große Entscheidungen zu treffen. Beim Aufstehen, der Kleiderwahl, wie wir den Tag gestalten, was wir essen, wie wir Menschen begegnen und welche Gedanken und Gefühle wir kultivieren. Über den freien Willen, unsere Wahlmöglichkeiten und einen mutigen Schulkamerad.

Wir treffen rund 20 000 Entscheidungen täglich, laut des Münchner Hirnforschers Ernst Pöppel. Morgens, wenn wir den Wecker ausschalten, die Augen noch mal kurz schließen, sie wieder öffnen, uns vom Bett erheben, ins Bad laufen usw. Es sind kleine, blitzschnelle Entscheidungen, die wir kaum wahrnehmen. Wie betrachte ich mich heute selbst im Spiegel? Welches Körpersignal nehme ich wahr? Welche Kleidung wähle ich aus zu welcher Stimmung? Wie will ich heute sein und anderen damit begegnen? Diese Fragen stellen wir uns meist gar nicht bewusst, sondern agieren aus dem Autopilot-Modus heraus. 

Es gibt diverse Entscheidungs-Ebenen: pragmatische, organisatorische Alltagsentscheidungen, unbewusste Entscheidungen, die aus Prägungen wie »Pünktlichkeit ist ein Gesetz« oder »Ich muss fleißig sein« gewählt werden. Dann gibt es jene, die auf Werten und Motiven beruhen, wie »eine liebende Mutter zu sein« – das bewegt mich zumindest dazu, morgens aus dem Bett zu kommen, Brote zu schmieren und die Morgenmuffel auszuhalten. Und schließlich können wir uns sinnstiftenden Lebensentscheidungen stellen – oder eben nicht. Auch das ist eine Wahl.

Entscheidungen erfordern Willenskraft und diese Ressource kann bis zum Abend aufgebraucht sein. Akku leer – dabei war der Tag manchmal gar nicht so hart. Vermutlich haben wir dann unsere Entscheidungskapazität zu sehr ausgereizt. Vieles bürden wir uns selbst auf. Hand aufs Herz: Wie viele Stunden Recherche betreibst du, wenn du dir ein neues Haushaltsgerät oder Möbelstück zulegen möchtest? Ich könnte zumindest anschließend eine wissenschaftliche Arbeit darüber schreiben, weil ich soviel über das Produkt und die Marktverhältnisse in Erfahrung gebracht habe. Das ist haarsträubend, wie viel Zeit- und Nervenaufwand ich darin investiere, weil das World Wide Web mir so umfangreich Zugang gewährt. Jeder Click ist eine Entscheidung. Und so rutsche ich in einen Entscheidungs-Überdruss, bin genervt, von diesem Wust an unsortiertem Wissen und meiner Unfähigkeit zu wählen. 

Was mir mittlerweile hilft: Auf meine Intuition hören, wenn mich spontan etwas begeistert. Nach Empfehlung fragen von Menschen, deren Meinung ich schätze. Beraten lassen von Fachverkäufern vor Ort und wenn das Bauchgefühl passt – ja!

Ratgeber empfehlen außerdem, Prioritäten im Alltag zu setzen, damit es »vielleichter« wird. Wo will ich, wie viel meiner Energie einsetzen? 

Ein prominentes Beispiel für einen pragmatischen Umgang mit Entscheidungen lieferte Apple-Mitbegründer Steve Jobs. Er ersparte sich die tägliche Kleidungs-Qual-der-Wahl, indem er immer den selben Pulli, die gleichen Jeans und Sneaker wählte. Seine Entscheidungskapazität fokussierte er lieber auf sein Business. 

Das Thema Minimalismus im Alltag und »weniger ist mehr« hat einen ähnlichen Effekt, es schont unsere mentale Kraft, weil wir weniger selektieren müssen. Das gilt auch für unser Konsumverhalten was Produkte und Informationsflut betreffen. Würden wir weniger Gegenstände und digitalen Input konsumieren, müssten wir weniger entscheiden und sparten Geld und Nerven. 

Großer Beliebtheit erfreuen sich z.B. Tiny Häuser oder Campingbusse – nicht erst seit Corona. Kleiner Raum, wenige, ganz bewusst ausgewählte Gegenstände, dafür mehr Raum für emotionale Nähe. Überhaupt ist in den sozialen Medien ein Richtungswechsel des Lifestyles erkennbar. Luxus, Superkräfte und Profilierung haben an Glanz verloren. Die Wahloptionen durch Wohlstand und Digitalisierung machen viele zunehmend müde. Die Influencer zeigen sich verletzlich und verantwortungsbewusst , werden von Markenbotschaftern mehr zu Lebensberatern. Der neue Zeitgeist: Konsumiere bewusster – nachhaltige Produkte, gesundes Essen und Trinken und mental durch »digitales Detox« und ein »positives Mindset«.

Wie frei sind wir Menschen tatsächlich in unserer Willensentscheidung? Im biologischen Kontext wird der Wille eines Menschen durch Erbanlagen und Umwelteinflüsse bestimmt. Biblisch betrachtet schuf uns Gott mit einem freien Willen. »Was der Mensch sät, das wird er auch ernten«, heißt es im Galaterbrief. Auch wenn ich meine Geburtsbedingungen und mein Geschlecht nicht bestimmen kann, steht mir ein großer Entscheidungsradius zu, mit dem ich demnach meine Richtung lenke. Die Summe meiner Entscheidungen spiegeln mein Leben heute wider. Wenn ich in den Spiegel schaue, was sehe ich also? Habe ich für mich gute Lebensentscheidungen getroffen, wähle ich aus meinen täglichen Möglichkeiten auch weise? Der Schweizer Pastor Hansjörg Stadelmann schreibt auf seiner Website: »Ich habe mir oft gewünscht meine Einstellung, meine Entscheidungskraft und meinen Willen in einem Moment der Klarheit für immer einfrieren zu können und zu programmieren, um so immer die Fähigkeit zu haben gute und weise Entscheidungen zu treffen und nicht dieselben Fehler zu wiederholen. Doch das ist uns Menschen nicht möglich, weil wir keine programmierbaren Roboter sind.« 

Wenn wir uns also entscheiden, etwas Sinnvolles zu tun, ist das unser persönlicher Verdienst. Wählen wir das Gegenteil, liegt das in unserer persönlichen Verantwortung. Jeder Mensch habe seinen persönlichen Entscheidungsspielraum und wähle bei ähnlichen Umständen unterschiedliche Handlungsentscheidungen, erklärt Victor Frankl, ein weltberühmter Neurologe und Psychiater, der drei KZ-Lager überlebte.

 

»Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. Im Raum liegt die Macht zur Wahl unserer Reaktion.« Laut Frankl ist der Mensch nicht nur reagierendes oder abreagierendes, sondern auch agierendes, gestaltendes Wesen. Der Mensch suche nach Ausdrucksmöglichkeiten, indem er in jeder Situation den Sinn des Augenblicks erkennen und verwirklichen kann.

Klingt leichter gesagt als getan. Wer fragt sich schon in jeder Situation, ob er sinngerecht agiert?! Wir handeln einfach. Anderseits, warum nicht, diese Frage im Alltag öfter einbauen – ist das was ich gerade tue sinnesfüllend bzw. liegt da (noch) ein tiefliegender Sinn dahinter? Gerade im Berufsleben steckt man irgendwann drin und bemerkt vielleicht nicht, das sich die eigenen Bedürfnisse und Werte verändert haben. Welche Erfüllung erwartet uns, wenn wir uns aus unserer Komfortzone bewegen würden?

Raum

»Habe den Mut, Entscheidungen zu treffen, die der Verstand nicht versteht«, erklärt der Bestsellerautor und Mentalcoach Lars Amend.

Nach unserem gemeinsam Abitur in Giessen folgte er seinem inneren Ruf erstmal in die Welt rauszugehen ohne konkreten Plan. Die Neugier trieb meinen Schulkameraden an, und das Vertrauen in seine intuitiven Entscheidungen. Auf seinem Weg von London, nach Berlin und Frankfurt überwand er einige Hindernisse. Doch es fügten sich auch bereichernde Erfahrungen. Er wurde Musikredakteur und traf viele bekannte Künstler. Wie später auch Bushido, dem er seine Autobiographie schrieb. Es wurde ein Bestseller. Anschließend verfasste er weitere Buchhits, begegnete Paulo Coelho und staunte über die Geschenke, die ihm das Leben gab, weil er es wagte, ungewisse Pfade zu wählen. 

Dann traf er wieder eine ungewöhnliche Wahl: einem 15-jährigen todkranken Jungen im Hospiz etwas Aufmunterung zu schenken. Diese schicksalhafte Begegnung mit Daniel Meyer wurde lebensverändert für beide. Daniel hatte nur noch wenige Monate zu leben. Lars und er entschieden sich, diese Zeit mit so viel Abenteuern und Freude zu füllen wie möglich. Lars schrieb daraufhin ihre Geschichte auf. »Dieses bescheuerte Herz« wurde ein Beststeller und Kassenschlager im Kino. Daniel ist mittlerweile 24 Jahre alt.